von Norman Paech | Vorbilder setzen auf Gewaltenteilung, doch der amtierende Machthaber macht aus der türkischen Demokratie eine Diktatur.
Bei einer Exekution dauern die Vorbereitungen erfahrungsgemäß länger als der Akt der Enthauptung selbst, bis der leblose Körper entsorgt werden kann. So war auch die Selbstexekution des türkischen Parlaments im Januar in zwei Wochen vollzogen.
Teilweise turbulent und schmerzhaft verlief das Prozedere, aber letztlich erfolgreich mit 338 von 550 möglichen Stimmen. Das schaffte die konservative Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung mit ihren 317 Sitzen nur mit der Hilfe der 40 Sitze der ultranationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung.
Die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) hatte sich nicht an der Abstimmung beteiligt, denn 14 ihrer Abgeordneten waren vorher verhaftet worden und saßen hinter Gittern, ihre beiden Vorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüsekdağ bereits seit November. Noch werden Hoffnungen in das Referendum im April gesetzt, mit dem das Volk der Umwandlung der Verfassung – 1982 unter der Militärdiktatur erlassen -, in eine Präsidialdiktatur verhindern könnte.
Doch die Chancen sind gering, denn Erdoğan hat seit seiner Wahlniederlage im Juni 2015, als es ihm nicht gelang, die HDP aus dem Parlament herauszuhalten, keine Mittel gescheut, aus der Demokratie eine Diktatur zu machen. Er beendete den Dialog mit den Kurden und begann im Juli 2015 Krieg gegen ihre Städte. Er legte ihre Zentren in Trümmer, verhängte den Ausnahmezustand und vertrieb ihre Bewohner.
Als ein Jahr später, im Juli 2016, Teile des Militärs putschten, verhängte er sogleich den Notstand über das ganze Land und begann eine
Säuberungskampagne unvorstellbaren Ausmaßes in Militär, Verwaltung, Justiz, Schulen und Universitäten, gegen Verlage, Journalisten und Rechtsanwälte. Beschlagnahmt wurden zivile Firmen und Konzerne. Zehntausende Menschen wurden in die Gefängnisse gesteckt, die bisherigen Insassen mussten entlassen werden, um Platz zu schaffen. Faktisch wurden nicht nur die zentralen politischen und bürgerlichen Grundrechte suspendiert. Erdoğan nahm die neue Verfassung vorweg und regiert mittels Dekret ohne Regierung und Parlament.
Die massenhafte Entlassung des öffentlichen Personals – allein über 4000 Lehrerinnen und Lehrer in Diyarbakir – lassen das ordnungsmäßige Funktionieren der öffentlichen Dienste kaum mehr zu. In Schnellkursen werden neue Richter rekrutiert. Von Ankara eingesetzte Gouverneure haben in den kurdischen Provinzen die entlassenen Bürgermeisterinnen und Bürgermeister ersetzt und die ausgedünnten Stadtverwaltungen übernommen. Gewalt und Willkür sind an die Stelle von Recht und Berechenbarkeit getreten, der Rechtsstaat ist vollkommen paralysiert. Dieses System, welches mit dem Begriff des Präsidialsystems nur verharmlost wird, soll durch die neue Verfassung nun auch konstitutionell legitimiert und abgesichert werden. Im Zentrum steht der Präsident, das Staatsoberhaupt. Das Amt des Ministerpräsidenten wird abgeschafft, was der amtierende Ministerpräsident Binali Yildirim lakonisch kommentierte, dass sich de facto eigentlich nichts ändern würde.
Der Präsident kann höchstens zweimal gewählt werden, ordnet er jedoch in der zweiten Legislaturperiode Neuwahlen an, darf er wieder kandidieren. Ein Trick, der ihm faktisch die unbegrenzte Kandidatur garantiert. Er kann das Parlament jederzeit auflösen, während dieses weder gegen den Präsidenten noch den Vizepräsidenten oder einen Minister einen Misstrauensantrag stellen und ihn stürzen kann. Nur mit einer Zweidrittel- Mehrheit kann das Parlament den Präsidenten vor dem Obersten Gericht anklagen. Dieser wiederum kann nicht nur Minister, Offiziere, Universitätsrektoren und die Hälfte des Hohen Rates für Staatsanwälte und Richter ohne Regierung und Parlament ernennen, sondern auch ohne deren Zustimmung mittels Dekret faktisch ohne Kontrolle regieren. Der Notstand wird zum Dauerzustand, die Idee der Gewaltenteilung getilgt und das parlamentarische System als leere Staffage in die Kulisse geschoben. Präsidentielle Systeme finden wir in zahlreichen Ländern Lateinamerikas, aber auch Asiens, so auf den Philippinen und in Südkorea. Ihr Vorbild sind die Vereinigten Staaten von Amerika, deren Gründungsväter sich mit dieser Konstruktion von den absolutistischen Regimen im Europa des 18.
Jahrhunderts abgrenzen wollten.
Das US-amerikanische Präsidialsystem beruht wie die europäischen parlamentarischen Systeme auf der Gewaltenteilung mit den voneinander getrennten Verfassungsorganen der Legislative, Exekutive und Judikative. Jedoch kann sich der Präsident der USA nicht auf eine eigene Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses, in Senat und Repräsentantenhaus stützen. Für jede Gesetzesvorlage muss er sich eine Mehrheit suchen. Da keine Fraktionsdisziplin herrscht, muss er selbst dann, wenn in beiden Häusern seine Partei die Mehrheit bildet, die Mehrheit organisieren.
Diese Konstruktion begrenzt die Macht des Präsidenten erheblich, wenn sie auch etliche Schlupflöcher für präsidentielle Entscheidungen offen lässt. Die starke Stellung des Kongresses wird dadurch symbolisiert, dass dem Präsidenten in keinem der beiden Häuser ein Sitzplatz reserviert ist und er nur einmal im Jahr zu den Abgeordneten über »Die Lage der Nation« spricht – ohne anschließende Aussprache. Er kann den Kongress weder mit einer Vertrauensfrage noch mit der Parlamentsauflösung unter Druck setzen. Er kann jedoch vom Repräsentantenhaus vor dem Senat wegen Verrat, Bestechung sowie anderer Verbrechen und Vergehen mit einer Amtsklage (Impeachment) überzogen werden. Gegen Bill Clinton fehlten 1999 nur die erforderlichen Mehrheiten.
Schon diese wenigen institutionellen Merkmale zeigen ein ausgeprägtes Kontrollsystem der Gewaltenteilung, welches je nach den gesellschaftlichen Machtverhältnissen nach der Seite der Exekutive oder Legislative gewichtet werden kann. Doch nichts davon wird nach der neuen türkischen Verfassung übrig bleiben. Der Präsident à la turca hat das demokratische Gewand abgestreift und den Waffenrock des Diktators hervorgeholt.
Der Völkerrechtler Norman Paech ist emeritierter Professor für Öffentliches Recht und war von 2005 bis 2009 außenpolitischer Sprecher der LINKEN im Deutschen Bundestag.