von Walter Hofmann | Am 7. und 8. November war ich schon als Prozessbeobachter in Ankara. Wieder komme ich gegen Mitternacht an und werde mit zwei Kollegen aus NRW in das Egitim-Sen-Hotel gebracht, das Gästehaus der Lehrergewerkschaft.
Am 6. und 7. Februar nehmen wir, sechs Prozessbeobachter aus Deutschland, an der Gerichtsverhandlung gegen 36 Personen teil, die der Mittäterschaft an dem blutigen Terroranschlag auf eine Friedensdemonstration am 10. Oktober 2016 in Ankara verdächtigt sind. Es sind Leute aus dem Umfeld des IS. Ich bin schon gespannt, was diesmal passieren wird.
Am Morgen des 6. Februar findet eine Demonstration der Opfer vor dem Gerichtsgebäude statt. Ein großes Transparent mit den Fotos der Opfer trägt die Aufschrift „10.10.2015 Ankara – wir werden nicht vergessen – wir werden nicht vergeben – wir wollen Gerechtigkeit“. Während der Reden werden Plakate mit den Fotos der Ermordeten hochgehalten.
Dann gehen wir zusammen mit den anderen Zuschauern – eigentlich sind es selbst Opfer des Anschlags oder Angehörige von Opfern – in das Gerichtsgebäude. Der Gerichtssaal ist wie beim ersten Mal voll besetzt, so dass noch der Nebenraum teilweise belegt ist. Ein Anwalt beantragt, dass wir vom Gericht Beobachterstatus erhalten. Das lehnt der Richter ab.
Am ersten Tag werden Hauptbeschuldigte befragt. Als erstes ist die Frau eines Drahtziehers des Anschlags, der sich vor seiner Festnahme in die Luft sprengte, an der Reihe. Bei der Vernehmung spielt sie die Unwissende. Beim Kreuzverhör durch die Anwälte der Nebenkläger verstrickt sie sich aber in Widersprüche. Die Anwälte verlangen die Festnahme der Frau, da Fluchtgefahr bestehe. Jetzt beantragt auch der Staatsanwalt, der sich sonst auffallend zurückhält, Haft. Der Richter ordnet die Festnahme der Frau an. Das ist ein gewisser Etappensieg der Anwälte. In der Mittagspause sind die Fotos der Opfer auf dem Vorplatz aufgestellt
Am Nachmittag werden zwei weitere Hauptbeschuldigte vernommen. Der erste Angeklagte zweifelt die Zuständigkeit des Gerichts an, weil es „weltlich“ sei. Auf die Fragen der Rechtsanwälte antwortet er mit „nein“ oder „keine Angabe“. Als Zuschauer Zwischenrufe machen und der Richter zur Ruhe mahnt, meint er sinngemäß: „Lassen Sie mich das machen, ich schaffe das!“ Auch der zweite Angeklagte macht keine Angaben. Beide Angeklagte werden abgeführt.
Am Ende des Prozesstags wird noch einmal eine kurze Kundgebung vor dem Gericht abgehalten. Auf deutsch wird „Hoch die internationale Solidarität gerufen“.
Am Abend sind wir dann von den Gewerkschaften KESK (Gewerkschaftsdachverband der Beschäftigten im öffentlichen Dienst) und Egitim Sen (Gewerkschaft der Lehrer und anderer Ausbildungsarbeitskräfte) zum Essen eingeladen. Die Vorsitzenden der KESK, Lami Özgen, und der Egitim Sen halten Referate über die Lage der Gewerkschaften in der Türkei. Es sind auch noch einige andere führende Gewerkschafter anwesend sowie die Referentin für Arbeit und Soziales an der deutschen Botschaft – privat, wie sie betonte – und ihr Lebensgefährte, der früher einmal bei der Internationalen Gewerkschaftsorganisation in Genf tätig war. Die KESK hat etwas über 200.000 Mitglieder, die Egitim Sen 100.000. Die Mitgliederzahlen sind aufgrund der staatlichen Verfolgungen rückläufig. Egitim Sen zahlt jedem seiner entlassenen Mitglieder monatlich 2.000 Lira, das sind etwa 500 Euro. Der Vorsitzende appellierte an die europäischen Gewerkschaften, sie auch finanziell zu unterstützen. Gegen Lami Özgen laufen mehrere Strafverfahren. Am 28. November 2011 verurteilte die 8. Kammer für schwere Straftaten in Izmir 25 Gewerkschafter, darunter Lami Özgen, zu je 6 Jahren und 3 Monaten Haft. Sie hätten sich innerhalb der Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK) in einer Demokratischen Konföderation der Arbeit zusammengeschlossen und damit im Sinne der Terrororganisation PKK gehandelt. (auch nachzulesen bei Wikipedia). Weil er Berufung gegen das Urteil eingelegt hat, ist er noch auf freiem Fuß. Özgen scherzhaft zur Sozialreferenten der deutschen Botschaft: „Sie sitzen also einem gefährlichen Terroristen gegenüber.“
Am zweiten Prozesstag werden alle Angeklagten, die in Haft sind, vorgeführt. Eine große Anzahl Polizisten sind im Gerichtssaal. In der vorderen Reihe zu den Zuschauern hin sitzen bewaffnete Polizisten mit Schilden, Schlagstöcken und Tasern. Heute machen die Nebenkläger ihre Aussagen.
Alle betonen, dass es eine Demonstration für Frieden und Verständigung war, die brutal angegriffen worden war. Eine junge Frau, deren Eltern im Gefängnis sitzen, weil sie Abgeordnete der HDP sind, sagt wörtlich: „Wir wurden mitten in der türkischen Hauptstadt abgeschlachtet.“ Sie berichtet, dass vor der Explosion der Bomben keine Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden waren, dass nach dem Anschlag plötzlich viel Polizei aufgetaucht ist, dass die Verletzten mit Pfefferspray und Tränengas angegriffen wurden und dass die Rettungskräfte von der Polizei behindert wurden. Sie stellt Strafanzeige gegen alle Verantwortlichen des Staates und der Polizei. Ähnliche Aussagen machen auch die anderen Nebenkläger, die selber verletzt wurden oder deren Angehörige oder Freunde unter den Opfern waren. Alle bestätigen, dass das Eingreifen der Polizei die Situation der Verletzten noch verschlimmert hat und dadurch weitere Tote verursacht wurden. Es steht im Raum, dass 30% der Toten durch den Angriff der Polizei auf die Verletzten gestorben sind.
Von weiteren Nebenklägern wird Strafanzeige gegen den Staatspräsidenten Erdogan, den damaligen Ministerpräsident Davutoglu und den Gouverneur von Ankara gestellt. Es kommt auch zur Sprache, dass die Täter ungehindert die Grenze zwischen Syrien und der Türkei passieren konnten und dass sie dem Geheimdienst bekannt waren. Ein weiteres Indiz für die Verstrickung des Staatsapparats: Die Busse, welche die Demonstranten nach Ankara brachten, wurden nicht, wie sonst üblich, von der Polizei kontrolliert und aufgehalten.
Die Aussagen der Nebenkläger – es sind etwa vierzig, die das Wort ergreifen – sind sehr präzise und detailliert. Ich bewundere diese Menschen, die mutig und ohne Scheu ihre Anklagen gegen die diktatorische AKP-Regierung, die Polizeiführung und den Geheimdienst vorbringen. Schließlich wissen auch sie, dass das Gericht nicht „unabhängig“ ist. Ganz zu schweigen von den Agenten des Geheimdienstes, die mit Bestimmtheit Auge und Ohr im Gerichtssaal haben. Manchen Zuschauerinnen und Zuschauern laufen Tränen über das Gesicht. Eine Frau erleidet, nachdem sie ihre Aussage gemacht hat, einen Nervenzusammenbruch.
Schließlich kommt es am Nachmittag noch zu tumultartigen Szenen: Eine Opferanwältin, deren Mann selbst bei dem Attentat getötet wurde, verliest die Namen der Ermordeten. Darauf setzt einer der Angeklagten noch die Namen der Selbstmordattentäter hinzu. Ein Aufschrei geht durch den Saal, wütende Zwischenrufe, leere Plastikflaschen fliegen Richtung Angeklagten. Die Polizei geht in Kampfstellung. Wir sitzen in vorderster Reihe und beschließen, nach draußen zu gehen. Eigentlich habe ich aber gar keine Angst: die vielen fortschrittlichen Menschen um uns geben ein Gefühl der Sicherheit „Gemeinsam sind wir stark – Hep beraber kuvvetliiz!“ Und ich denke mir auch, dass angesichts der ausländischen Prozessbeobachter der Richter schlau genug ist, es nicht zum Äußersten, einer gewaltsamen Saalräumung, kommen zu lassen. Langsam lehrt sich der Raum und der Richter ordnet eine Unterbrechung an. Die Angeklagten werden abgeführt und kommen auch nach der Pause nicht zurück. Mich lässt der Gedanke nicht los, bei dem Zwischenruf könnte es sich auch um eine gezielte Provokation gehandelt haben, um den Prozess in eine gewisse Richtung zu lenken.
Jedenfalls entspann sich am Ende des Prozesstags noch ein Streit zwischen den Opferanwälten und dem Richter bzw. Staatsanwalt um den Ausschluss der Angeklagten. Der Richter war der Meinung, der Ausschluss sei gerechtfertigt, weil so ohne Zwischenfall weiter verhandelt werden könne. Die Anwälte argumentierten, dass er gegen die Prozessordnung verstoße und somit ein Revisionsgrund gegeben sei. Das Gericht müsse dafür sorgen, dass die Angeklagten in einem abgeschirmten Raum teilnehmen könnten. Wie der Streit ausgegangen ist, bekam ich leider nicht mehr mit.
Mein Eindruck von dem Prozess ist folgender: Es handelt sich bei dem ganzen Verfahren um eine Farce. Das Gericht gibt sich neutral, ist es aber nicht. Der Vorsitzende äußert sogar einmal Verständnis dafür, dass die Nebenkläger aufgebracht und wütend sind, aber er tut nichts, um die Angeklagten in die Schranken zu weisen, sondern lässt sie einfach abführen. Die Vorwürfe gegen die Regierung und die Polizei lässt er unkommentiert. Er macht fast einen unbeteiligten Eindruck. Nur wenn die Rechtsanwälte der Nebenkläger massiver werden, regt er sich auf. Die beiden beisitzenden Richter verschanzen sich hinter ihren Computerbildschirmen. Der Staatsanwalt macht auch nichts. Nur als die Anwälte verlangen, die Angeklagten sollten wieder an der Verhandlung teilnehmen, mischt er sich ein. Das ganze wirkt auf mich wie ein abgekartetes Spiel. Vielleicht sogar auch die Provokationen durch die Angeklagten. Es wäre interessant zu wissen, ob die Anklagen gegen die Staats- und Polizeiführung auch schriftlich eingereicht worden sind.
Dieser Prozess, bei dem es durch die Prozessführung der Nebenkläger und deren Anwälte vor Allem um die Verstrickung der türkischen Regierung in den Anschlag von Ankara und von Suruc geht, bleibt weiterhin spannend.
Stehen wir auch in Zukunft an der Seite der türkischen Gewerkschafter, Demokraten und Revolutionäre! Schluss mit der Zusammenarbeit Merkel – Erdogan! Keine Waffenlieferungen in die Türkei!
Noch ein kleiner Nachtrag: Am Abend des 2. Prozesstags kaufen wir einige Exemplare der Tageszeitung „Evrensel“, die der EMEK-Partei nahe steht (und in der Türkei noch nicht verboten ist!). Darin ist ein ganzseitiger Artikel über den Prozess. In einem Kasten sind auch wir, die Prozessbeobachter aus Deutschland, Namentlich genannt. Als wir mit der Zeitung in der Hand ein kleines Café-Restaurant betreten, wird einer von uns vom Kellner angesprochen. Er sei auch bei der Demonstration am 10. Oktober 2015 gewesen und Zeuge des Anschlags geworden. Er hat Glück gehabt, weil er auf der anderen Straßenseite stand. Dadurch blieb er unverletzt. Wir freuen uns, dass wir überall auf fortschrittliche Menschen treffen.
Nach Protokollnotizen niedergeschrieben am 14.02.2017